Fruchtgummi, Hartkaramellen, Toffees, Lollies: Wer in der „Bonbonfabrik” seine Ausbildung beginnt, taucht in eine süße Welt ein. Es ist aber nicht nur die süße Versuchung der Produkte, die bei SweetTec, ToffeeTec und Ragolds hergestellt werden. Vielmehr versüßt eine große Melange dem Berufsnachwuchs den Einstieg. Rund 20 junge Menschen starten pro Jahr in einen von zwölf Berufen beim Boizenburger Süßwarenproduzenten, der zu den großen Playern der Nahrungsmittelbranche zählt. Im Firmenverbund sind mittlerweile über 700 Mitarbeitende tätig – mit einem Altersdurchschnitt von nur 38 Jahren.
„Wir haben einerseits Mitarbeiter, die 2002 mit uns gestartet sind und nun nach und nach in Rente gehen. Andererseits gehören viele junge Leute zur Bonbon-Familie, die zum Teil auch Kinder von Mitarbeitern sind“, erklärt Sonja Schindler. Die 49-Jährige managt Kommunikation sowie Organisation und hat sich als Teil der Geschäftsleitung dem HR-Bereich verschrieben. „Das kommt nicht von ungefähr. Vor vielen Jahren erhielten wir Wäschekörbe voll mit Bewerbungen. 2021 registrierten wir schon einen starken Rückgang. Ich wollte verstehen, woran das liegt.“ Die engagierte Personalerin hat verstanden: „Es gab sehr traditionelle Vorstellungen, wie Auszubildende sein müssten. Hatte jemand vergessen, seinen Lebenslauf an die Bewerbung zu hängen, bekam der Interessierte gar nicht erst eine Einladung. Doch: Welche wertvollen Informationen beinhaltet der Lebenslauf eines Zehntklässlers?“ fragt Sonja Schindler, schüttelt den Kopf und schildert Ansätze, die sie im Prozess des Umdenkens längst etabliert hat.
Als Unternehmen beim Berufsnachwuchs bewerben
„Wir müssen auf junge Menschen zugehen“, sagt die Personalverantwortliche. Das fängt bei Berufsorientierungsmessen an und geht mit engen Kontakten zu Schulen und der pro-aktiven Ansprache von Lehrkräften weiter. „Wenn ich den Beruf des Anlagen- und Maschinenführers vorstelle, von Produktion und Schichtarbeit spreche, dann werfe ich alles in den Ring, was ein Unternehmen unbeliebt macht.“
Also holt die Managerin potenzielle Bewerber auf Augenhöhe ab und ein paar eigene Azubis gleich dazu, begibt sich mit allen auf Betriebsrundgang und lässt die Interessenten ihr eigenes Fruchtgummi herstellen. „Die Jugendlichen sollen sehen, was auf sie zukommt, Arbeitsplätze erleben und die Stimmung in den Teams wahrnehmen.“ Begeisterung schwingt mit, wenn Sonja Schindler von „ihren“ Azubis spricht. Sie kennt sie alle, zumeist auch die Geschichten, welche junge Menschen mitbringen. Die Du-Kultur fördert das Miteinander, weil Respekt die Ansprache in dem familiengeführten Unternehmen begleitet.
„Ich lade jeden Bewerber ein, baue persönliche Kontakte auf, um den jungen Menschen kennenzulernen.“ Wer schlecht in Mathe ist und Englisch abgewählt hat, aber für sein Leben gern schraubt, bekommt eine Chance und die notwendige Akzeptanz. „Da müssen wir mit Blick auf die Berufsschule sicher ordentlich unterstützen. Nachhilfe übernimmt einer unserer Produktionsleiter. Ich bin sicher, dass wir auch so tolle Mitarbeiter entwickeln.“ Unlängst wurde ein Ausbildungsleiter eingestellt, der ausschließlich die Lernenden im gewerblichen Bereich betreut und als persönlicher Ansprechpartner zur Verfügung steht.
Solche Mehrkosten muss ein Unternehmen erstmal leisten können. „Wir freuen uns, das zu schaffen und sind vom Mehrwert überzeugt.“ Überzeugt ist die HR-Spezialistin auch vom Fachkräftezuwanderungsgesetz. Sie überlegt bereits, Aspekten wie Wohnraum, Sprache, Kultur gerecht zu werden. Denn: Das Arbeitskräftepotenzial vor Ort reicht für Zukunft nicht aus. Es gibt definitiv viel zu wenig junge Menschen.
Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis
„Wir sind erneut als TOP-Ausbildungsbetrieb der IHK geehrt worden. Allerdings ist es nicht immer einfach, einen hohen Standard in der Berufsausbildung zu halten. Denn momentan macht uns gerade die mangelnde Versorgung von Lehrkräften an den Berufsschulen große Sorgen. Einige Fächer – bei Industriekaufleuten zum Beispiel Deutsch – sind nicht besetzt.“ Die Unternehmerin drängt darauf, an den Schulen und in der Politik auf Veränderungen hinzuwirken. „So lange nichts passiert, müssen wir fehlende Inhalte selbst abbilden. Schließlich sollen unsere Azubis ihre Prüfung schaffen.“
Lehrjahre keine Herrenjahre
Von wegen! „Dieser Satz ist bestimmt noch in einigen Köpfen verankert. Das finde ich wirklich schlimm! Wir dürfen bei all unseren Bemühungen nicht vergessen, dass wir junge Menschen für die Zukunft unserer Unternehmen ausbilden. Deshalb muss das Lernen gut und spannend gestaltet sein, Spaß machen, fordern und das Miteinander stärken. Sonja Schindler selbst hat nach dem Abitur eine klassische Bankausbildung absolviert. „Damals war es oft so, dass man hin- und hergeschoben wurde zum Aushelfen in unterbesetzten Abteilungen“, erinnert sie sich. Nebenberuflich studierte die junge Frau – abends und am Wochenende – an der Bank-Akademie. „So eine extreme Anstrengung würde heute wohl keiner mehr auf sich nehmen“, sagt die Betriebswirtin. „Ich bin froh über meine duale Ausbildung. Das war eine gute Kombination zwischen praktischen und theoretischen Anteilen. Sie versetzte mich in die Lage, in jeder Abteilung einer Bank durchzustarten. Ich konnte für mich feststellen, was mir am meisten liegt. Das wäre nur mit der Theorie des Studiums nicht möglich gewesen.“
Lust auf Weiterentwicklung wecken
Aus dieser Erfahrung hat Sonja Schindler gelernt. „Für unsere kaufmännischen Azubis gibt es in jeder Abteilung Ausbildungsbeauftragte. Der Arbeitstag beinhaltet spannende Aufgaben. Klar gehört auch mal die Ablage dazu. Wichtiger sind motivierende Momente. Wir achten darauf, dass wir viele Lehrinhalte vermitteln und lassen die jungen Leute alle drei Monate die Abteilungen wechseln.“ Nach der Ausbildung warten Fortbildungsmöglichkeiten wie die Meisterausbildung im produzierenden Bereich, die Fachausbildung oder alternativ die Entwicklung zur Führungskraft. Junge Kaufleute können nebenberuflich ihren Bachelor/Master oder Rüstzeug für größere Verantwortung als Führungskraft erwerben. Berufliches Vorankommen und Karriere spielen in einer Region, in der es um jeden einzelnen geht, eben auch eine Rolle.
„Wir brauchen Fachkräfte, die Lust haben, mit uns diesen Weg zu gehen, um neue Märkte zu erobern.“ Die Boizenburger sind dabei innovativ und kreativ unterwegs. Der Fruchtgummimarkt weist eine positive Wachstumsprognose auf. „Neue zuckerfreie oder vegane Produkte oder solche mit Vitaminen und Proteinen bereichern unser Portfolio bereits. Kürzlich haben wir einen Versuch gestartet und ein Kaubonbon mit Kollagen angereichert. Das ist gut für Haut, Haare und Nägel und kam insbesondere bei den Frauen gut an.“
Spannende Projekte und Benefits
Sonja Schindler findet mit ihrem Team immer wieder neue Ansätze, um zu überzeugen. „Unsere Azubis dürfen innerhalb eines Projektes eine Woche lang den Fabrikverkauf steuern oder betreuen Social Media-Kanäle.“ Das schafft Vertrauen.
Wertschätzung hat in der süßen Familie noch weitere Gesichter. Die „Bonbonfabrik“ bietet Angestellten auf 800 Quadratmetern Fläche die Möglichkeit, fast 24 Stunden am Tag Sport zu treiben. Da kann man sich einfach zum Kraftsport verabreden. Für Fahrten zwischen den drei Standorten stehen E-Roller bereit. So kommen auch unter 18-Jährige von A nach B. Fehlende Mobilität im ländlichen Raum gleicht eine Azubi-WG mit drei Plätzen aus. „Dafür haben wir eine Wohnung angemietet und modern möbliert. Von da geht’s mit dem Fahrrad ins Unternehmen.“
Ein Poloshirt mit Aufdruck, Gesundheitstage mit Massagen und Ernährungsberatung, Rezeptideen mit den nötigen Naturalien gleich dazu – „ich mag gern die Mitarbeitenden überraschen und Dinge tun, die sie nicht erwarten“, sagt Sonja Schindler. Dazu zählt ebenso ein Sommerfest im Beachclub Hamburg oder die Unternehmens-App, welche alle per Handy vernetzt, eine private Verkaufsplattform bietet und einen Infokanal.
Diese Mischung scheint zu schmecken. Das spiegelt sich im Arbeitgeber-Bewertungsportal kununu wider: „SweetTec ist ein moderner Arbeitgeber mit Weitblick. Die Atmosphäre in den Teams ist super freundlich und angenehm.“ Fünf Sterne und damit eine herausragende Bewertung, die alle Bestrebungen honoriert, Mitarbeiter an das Unternehmen zu binden.
Im Bezirk der Industrie- und Handelskammer zu Schwerin wurden 1.261 Ausbildungsverträge in 93 verschiedenen Ausbildungsberufen für das Ausbildungsjahr 2023 abgeschlossen. Darunter befinden sich auch 120 Ausbildungsverträge mit ausländischen Jugendlichen aus 31 verschiedenen Nationen. Mit der Kampagne „Ausbildung macht mehr aus uns“ wirbt die IHK deutschlandweit um die Gunst junger Menschen, die Lifehacks zum Beruf machen und „In irgendwas richtig gut“ werden wollen. „Jetzt#Könnenlernen“ spricht künftige Berufsstarter plakativ an. Damit es irgendwie gelingt, die Lücken der Babyboomer zu schließen.
Food Academy – gemeinsam Herausforderungen meistern
Das Ringen um Arbeits- und Fachkräfte brachte Nahrungsmittelhersteller frühzeitig zusammen, um gemeinsam Veränderungen anzuschieben. „Als wir seinerzeit auf den entstehenden Arbeitnehmermarkt aufmerksam machten, belächelte uns so mancher“, blickt Sonja Schindler zurück. Im November 2014 gründeten sieben Unternehmen aus Westmecklenburg und die Wirtschaftsförderungsgesellschaft Südwestmecklenburg GmbH die Food Academy. Seitdem fokussiert der Verein seine Arbeit auf den hohen Fach- und Nachwuchskräftebedarf der in Mecklenburg-Vorpommern ansässigen Ernährungsindustrie.
Zwischenzeitlich engagieren sich 21 Unternehmen mit über 3.500 Mitarbeitenden im Verein. Die Boizenburger bringen sich seit Anfang an aktiv ein, um mit Weiterbildungsangeboten die Ernährungsbranche attraktiver zu machen. „Es geht um Fortbildungsmöglichkeiten für Führungskräfte, darum, gute Trainer einzukaufen und sich auszutauschen.“ Zum Beispiel über die vereinseigene Ausbildung zum Digitalisierungsmanager, um Digitalisierung stärker in Unternehmen zu bringen, Widerstände zu überwinden und alle mitzunehmen. Spannend dabei: Gerade die Azubis zeigen Interesse, weil sie im digitalen Zeitalter aufgewachsen sind.